Dribbeln unter Strom

Wer auf dem Fussballplatz in der Favela Morro da Mineira in Rio de Janeiro spielt, produziert gleichzeitig Strom. Möglich machen das smarte Bodenplatten einer britischen Firma.

Sie rennen und dribbeln, schiessen und stürzen. Die brasilianischen Kinder geben alles, Fussball ist ihre Leidenschaft. Der Platz in der Favela Morro da Mineira, inmitten einer Armensiedlung von Rio de Janeiro, ist dennoch anders als andere Bolzplätze in Brasilien. Jeder Schritt, jeder Sturz wird hier in elektrische Energie umgewandelt. Unter dem künstlichen Rasenteppich liegen Bodenplatten, die jeweils auf Druck einen Minigenerator antreiben. Früher spielten die Kids abends im Dunkeln und riskierten in ihren Flipflops eine Verletzung. Nun geben Scheinwerfer Licht, das die Kinder selbst erzeugt haben.

Möglich machte das die britische Firma Pavegen in Partnerschaft mit dem Ölgiganten Shell. Der heute 30-jährige Ingenieur Laurence Kemball-Cook gründete das Unternehmen 2009. Im Werbefilm zur Eröffnung des Fussballplatzes in Rio sprüht er vor Begeisterung. Kemball-Cook ist überzeugt, dass die von ihm entwickelte Technologie Schule machen wird. Sie könnte vor allem in armen Regionen eine Option sein, dort, wo nicht überall ein Stromnetz vorhanden ist.

Rio war vor zwei Jahren. Inzwischen kann Pavegen über hundert Projekte vorweisen. Nicht nur Fussballplätze in Entwicklungsländern. Die stromerzeugenden Bodenplatten werden inzwischen auch im Heathrow Airport in London getestet, wo sie die Energie für die Leuchtdiodenbeleuchtung im Fussgängerkorridor liefern. Pilotanlagen gibt es zudem am Bahnhof West Ham in London und auf dem Federation Square im Herzen vom Melbourne.

200-mal mehr Energie

Vor wenigen Monaten hat CEO Laurence Kemball-Cook nun die neue Generation V3 vorgestellt. Das Prinzip soll zum Standard in den Städten der Zukunft werden, setzt sich der junge Unternehmer zum Ziel. «Stellen Sie sich die Oxford Street vor: Täglich spazieren dort 82'000 Menschen», sagt er. Das neue Modell generiert laut Pavegen 200-mal mehr Energie als die ersten Produkte, die noch auf dem Fussballplatz in Rio verlegt wurden. Es sind dreieckige Kunststoffplatten, die jeweils auf drei kleinen Generatoren stehen, welche durch die Trittbewegung in Fahrt kommen und Strom herstellen. Zusammen mit einer eigens entwickelten LED lässt sich eine Strasse erhellen oder Leuchtwerbung betreiben. Jede Platte gibt fünf Watt Leistung ab, wenn sie permanent betreten wird.

Die menschliche Bewegung in elektrische Energie umzuwandeln: Die Optionen scheinen gross zu sein – vor allem, wenn es darum geht, elektronische Geräte und Sensoren zu betreiben, die nicht viel Strom verbrauchen. Das Ziel ist, dass diese Geräte letztlich ohne Stromnetz auskommen. Das deutsche Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme in Dresden stellte dieses Jahr Mikroteile aus sogenannten elektroaktiven Kunststoffen vor, die unter mechanischem Druck elektrischen Strom produzieren. Diese Energiewandler sind so klein, dass sie in einem Schuh Platz finden. Der Träger, so die Idee, kann dann selbst den Strom herstellen, den er für seine tragbaren elektronischen Geräte benötigt.

Amerikanische Forscher des Laboratory of Sound and Vibration Research in Baltimore wiederum wollen künstliche Bäume bauen, die allein durch minimale Windvibrationen Energie produzieren. Einen einfachen Prototyp haben sie bereits erfolgreich gebaut. Die Forscher können sich vorstellen, auf diese Weise Überwachungssensoren für Gebäude oder Brücken mit Strom zu versorgen. Auch in der Medizin sehen Wissenschaftler Möglichkeiten, die menschliche Bewegung energetisch auszunutzen. Sie haben dabei das Herz oder die Lunge als Stromlieferant im Visier. Damit könnten Messgeräte oder Implantate wie Herzschrittmacher im Körper betrieben werden. Ein anderes Beispiel kommt aus der Akustik. Um den Strom für ein Hörgerät zu erzeugen, haben Forscher ein winziges Kraftwerk entwickelt, das die Kaubewegungen seines Trägers nutzt.

Noch sind diese Innovationen nicht marktreif. «Es fehlen zudem Langzeituntersuchungen dazu, ob die verwendeten Materialien für einen längeren Einsatz robust genug sind», sagt Dorina Opris von der Eidgenössischen Materialforschungsanstalt (Empa) in Dübendorf. Auch das britische Unternehmen Pavegen sagt nichts über die Langzeiterfahrungen seines Produkts. Auch über die Kosten wird bei der Präsentation nicht gesprochen. Ebenso ist die Ökobilanz unbekannt. Laut Firma bestehen die Generatoren aus rezykliertem Aluminium.

Konsumverhalten aufzeichnen

Die nächsten Jahre werden zeigen, ob sich die Innovation von Pavegen durchsetzen wird. Ganz auf Stromproduktion will die Firma allerdings nicht setzen. Mit den Bodenplatten bietet sich auch noch ein anderer Geschäftszweig an: Da jeder Tritt nicht nur Strom produziert, sondern auch digital registriert werden kann, lässt sich das Verhaltensmuster der Konsumenten anonym abbilden. Das nächste grosse Projekt überrascht denn auch nicht: Die smarten Bodenplatten sollen im Westfield, dem grössten Shoppingcenter Europas, verlegt werden.

Noch hat das Unternehmen keinen Gewinn gemacht. Die Geldgeber scheinen aber an die Innovation zu glauben. Das Team des Unternehmens ist innert fünf Jahren von anfänglich 5 auf 40 Ingenieure, Designer und Entwickler angewachsen. Rund 1500 Investoren haben mehr als zwei Millionen Euro in das Projekt gesteckt. An den Olympischen Spielen in Rio würden sich die stromerzeugenden Fussballplätze energetisch auf alle Fälle lohnen: Die Spieler rennen pro Spiel insgesamt mehr als 200 Kilometer.

http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/technik/dribbeln-unter-strom/story/18935759